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In Psalm 57 (und in Psalm 142) verarbeitet David die Geschehnisse, von denen uns in 1. Samuel 22 und 24 berichtet wird (vgl. Psalm 57, 1): seine grundlose Verfolgung durch Saul, den König, der ihn töten will.
Die Verse 1 – 5 schildern uns Davids Notsituation: Er vergleicht sich in seiner Bedrängnis mit einem wehrlosen jungen Vogel, das unter den Flügeln seines Elterntieres Schutz sucht. Dies ist ein in den Psalmen oft gebrauchtes Bild (vgl. Psalm 36, 7; 63, 8; 91, 4 – 5) für den Schutz und die Zuwendung, die wir durch Gott erfahren. Erinnern wir uns noch an das beruhigende Gefühl, wenn wir uns als Kinder in die Arme unserer Mutter oder unseres Vaters flüchten konnten? Damit war das Problem, das uns zu schaffen machte, noch nicht gelöst. Aber wir fühlten uns sicher, konnten erst einmal aufatmen. Doch was ist, wenn kein Elternteil in unserer Nähe ist oder wir – wie Elisabeth Mardorf es nennt – bereits zu „Waisenkindern mit grauen Haaren“¹ geworden sind? Wie gut, wenn wir dann wissen dürfen, dass wir auch Kinder eines anderen, eines himmlischen, Vaters geworden sind, bei dem wir immer Zuflucht, Trost und Geborgenheit finden werden:
„Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf.“
Von diesem Vater dürfen wir wissen, dass Er, wie David in Psalm 57, 3 sagt, „Gott, der Allerhöchste“ ist. „Der Allerhöchste“, diese Beschreibung Gottes zeigt Ihn uns als den Gott, dessen Herrschaft seine ganze Schöpfung einschließt. Er, dieser Gott, steht über allem, auch über den Menschen und Umständen, die uns bedrängen, die uns das Leben schwer machen, die unsere Seele vielleicht sogar an den Rand des Todes drängen. Seiner Hand entgleitet nichts. Weil David das weiß, kann er sich angesichts seiner Feinde (Psalm 57, 5) an Gott wenden und Ihn auffordern: „Erhebe dich!“ – Aus Davids Mund kommt kein ausgefeiltes, schön formuliertes Gebet. Ein Schrei seines Herzens ist uns überliefert: „Erhebe dich, Gott!“ Wir kennen das: Es gibt Situationen voller innerer und/oder äußerer Bedrängnis, in denen wir unseren Schmerz nicht mehr in Worte kleiden können, wo wir einfach keine Worte mehr haben. Aber das ist für Gott auch nicht wichtig. Ein Schrei unseres Herzens – hörbar oder unhörbar – reicht völlig aus. David hatte das schon früher erfahren:
„Ich aber sagte in meiner Verzagtheit: ‚Ich bin verstoßen aus deinen Augen‘ dennoch hörtest du die Stimme meines Flehens, als ich zu dir schrie.“
Soweit kann es kommen: Probleme, Anfechtungen und Bedrängnisse schieben sich wie eine undurchdringliche Nebelwand zwischen uns und unseren guten Gott (Lukas 18, 19). Wir verzagen und beginnen zu zweifeln: Sind wir nicht selbst an allem schuld? Haben wir immer zu wenig Glauben gehabt? Hätten wir nicht viel mehr beten, opfern, evangelisieren sollen? Geschieht es uns am Ende nicht ganz recht, dass wir jetzt leiden? Und ohne es zu merken, lauschen wir jener Stimme, die seit Anbeginn der Menschheit Zweifel in die Herzen der von Gott geliebten Wesen säen will: „Sollte Gott wirklich gesagt haben …., dass Er ein so elendes Wesen wie dich liebt? – Sollte Gott wirklich gesagt haben, dass du aus Gnade und nicht um deiner Werke willen erlöst und geliebt bist?“ Wenn diese Stimme unsere Ohren und Gedanken erobern will, dann lasst uns zu Gott schreien, wie David es tat. Ihm, dem von der vollkommenen Offenbarung der Liebe Gottes in Christus noch nichts bekannt war (1. Petrus 1, 10), war doch klar: Gott ist meine einzige Rettung und darum rufe ich zu Ihm trotz aller meiner Zweifel. Wie viel mehr dürfen wir, die wir in Christus angenommen sind, mit Freimut vor Gottes Angesicht treten (Hebräer 4, 16)? Lassen wir uns nichts einreden, lassen wir uns nicht aufhalten! Er, dieser Gott, der uns in Christus alles geschenkt hat (Römer 8, 31 – 38!), Er wechselt nicht plötzlich nach Lust und Laune die Seiten! Er lässt uns nicht „im Regen“ stehen. Wenn wirklich Sünde in unserem Leben sein sollte, dann wird Gottes Geist uns darauf aufmerksam machen. Diese Überführung durch den Geist Gottes ist befreiend (vgl. Psalm 32, 2 – 3 + 5; 1. Johannes 1, 9; Römer 8, 1), sie führt uns nicht in Zweifel oder Unglauben.
David hat uns eine interessante Beschreibung seiner Feinde hinterlassen (Verse 5 + 7). Er schildert sie als Löwen – grausame Tiere, die ihre Beute bis zum bitteren Ende verfolgen. Er schildert sie als feurige Flammen, die alles niederbrennen und selbst von blühenden Feldern nur verbrannte Erde zurücklassen, eine Wüste, in der kein Zeichen von Leben mehr sichtbar ist. Und er schildert sie als Menschen, deren Worte wie Kriegswaffen sind: scharfe Spieße und Schwerte, spitze Pfeile, die jedes Herz durchbohren, auf das sie treffen. Das sind drastische Bilder – und doch treffen sie nur zu gut das Empfinden derer, die unter solchen Bedrängnissen leiden. Wir sprechen heute nicht von scharfen Spießen und Schwertern, wir gebrauchen „moderne Bilder“. Aber die Aussage bleibt gleich. Ein Mobbingopfer sagte mir einmal: „An jedem Morgen, an dem ich mein Büro betrat, fragte ich mich, aus welcher Ecke heute ein Heckenschütze auf mich zielen würde.“ Worte, die wie scharfe Pfeile mit einem Bogen abgeschossen werden – oder wie 9 mm Patronen aus einer Beretta. Sie verletzen das Herz, töten das Vertrauen und die Freude.
Angesichts dieser Feinde schreit David nach Gottes Eingreifen und erlebt es auch: Saul fällt im Kampf gegen die Philister und damit endet die lange Verfolgung (2. Samuel 1). Wie Gott unsere Not wendet, wissen wir nicht. Aber wir dürfen Seiner Zusage vertrauen, dass Er sie wendet (Psalm 23, 1 – 4; Psalm 34, 6; Psalm 46, 1 – 5; Psalm 50, 15; Psalm 147, 3 – 6; Matthäus 10, 29 – 31; Matthäus 11, 28 – 30; Johannes 16, 33; 2. Korinther 4, 8 + 16 – 17; Hebräer 4, 15; 1. Petrus 4, 12 – 14).
Wie können wir das, was wir in diesem Psalm von David erfahren, praktisch in unserem Leben anwenden? Der biblisch-christliche Glaube kennt drei Formen der Verehrung Gottes: Dank, Lob und Anbetung:
Erstens: Wir bringen Gott unseren Dank dar für alles, was Er uns schenkt. Seine Gaben sind vielfältig. Von der Gesundheit, die es uns morgens ermöglicht aufzustehen und unseren Verpflichtungen nachzugehen, über die Nahrung, die wir empfangen und die uns am Leben erhält bis zu den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen dürfen, deren Liebe und Zuneigung unserem Leben Kraft und Freude schenkt.
Zweitens: Wir bringen Gott unser Lob dar, für alles, was Er tut. Manchmal erleben wir Gottes Taten in unserem eigenen Leben und werden dadurch beschenkt. Wir erleben vielleicht, wie Er eingreift, bewahrt, wie Sein Wort tröstet, wie Menschen von Ihm bewegt werden, uns zu helfen. Aber auch, wenn wir von Gottes Handeln nicht selbst betroffen sind, Sein Handeln „nur“ im Leben anderer mit ansehen dürfen, ist das Grund, Ihn zu loben. Wir erleben vielleicht, wie ein Paar, das schon konkrete Schritte zu seiner Trennung eingeleitet hat, sich entschließt, es doch noch einmal miteinander zu versuchen, gemeinsam an den Problemen seiner Beziehung arbeitet und dann sogar heiratet.
Drittens: Wir beten Gott an, weil Er ist, wer Er ist. Sein Wesen übersteigt alles, was wir uns vorstellen können und trotzdem teilt Er sich uns in den kleinen und großen Dingen unseres Lebens mit. Er lässt sich von uns nie ganz ergründen und doch können wir vollkommen geborgen sein in Ihm.
David bleibt bei seiner Bitte, seinem Schrei nach Hilfe nicht stehen. Die Verse 6 – 12 schildern uns Davids Verhalten, während er auf Gottes Eingreifen wartet: Er schaut glaubensvoll auf zu diesem Gott, dem Allerhöchsten, von dem er seine Hilfe erwartet. Und David beginnt, Gott zu danken – für die bisher erfahrene Hilfe und für die Hilfe, die der Herr jetzt senden wird. Je mehr er über die erfahrene Hilfe nachdenkt, desto mehr wird sein Herz von Dankbarkeit erfüllt. Seinen Dank an Gott kann er nicht für sich behalten (Psalm 57, 10) und sein Dank wandelt sich in Lobpreis. Aber je mehr David über die Taten Gottes nachdenkt, desto größer wird ihm das Wesen Gottes, Gott selbst (Psalm 57, 11) und sein Lobpreis geht über in Anbetung (Psalm 57, 12). So können von David nicht nur lernen, dass wir in jeder Notlage zu Gott schreien dürfen, sondern auch, dass unser Dank an Gott zum Lob Gottes und unser Lob Gottes zur Anbetung Gottes hin wachsen kann. Beginnen Sie doch einmal, all die Dinge, für die Sie dankbar sind, aufzuschreiben. Vieles verlangt tagtäglich nach unserer Aufmerksamkeit, so dass wir leicht diese Dinge vergessen können. Eine Freundin von mir hat dieses Problem recht einfach gelöst. In ihrer Küche hängt eine Schiefertafel, an der mit einem Band ein Stück Kreide befestigt ist. Unter der Überschrift „Danke Herr, für …“ kann jedes Familienmitglied Stichwörter aufschreiben, die die Familie beim Abendgebet an die guten Erfahrungen des Tages erinnern. Da finden sich dann Hinweise wie „Bewahrung in der Turnstunde“, „Paket von Tante Elli“, „Telefonat mit Oma“, „schnelle Autoreparatur“, „niedrige Rechnung“ oder „nur noch 3 Tage bis zum Urlaub“. Sie werden vielleicht keine Schiefertafel benutzen, aber Sie können einen Notizzettel mit sich führen – in der Geldbörse oder im Aktenkoffer, Sie können auch eine Dank-Liste in Form eines Dokuments auf Ihrem Netbook oder Smartphone anlegen. Welche Form auch immer Sie wählen – nehmen Sie Ihre Liste abends zur Hand, danken Sie Gott im Gebet für die guten Gaben und Erfahrungen. Sie werden erleben, wie Sie Gott langsam aber beständig besser kennen lernen und wie sich Ihr Dank in Lobpreis und Ihr Lobpreis in Anbetung Gottes wandelt. Denn das ist Gottes Wunsch:
„Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben.“
(Johannes 4, 23)
Fußnoten:
¹= http://mardorfcoaching.wordpress.com/2011/08/08/waisenkind-mit-grauen-haaren