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Mehr als gute Wünsche oder seelische Streicheleinheiten
Im zweiten Brief des Apostels Paulus an seinen Mitarbeiter Timotheus findet sich – gleich im ersten Vers des 2. Kapitels – folgende Aufforderung:
“Du nun, mein Kind, sei stark (oder: erstarke) in der Gnade, die in Christus Jesus ist (…)“
(2. Timotheus 2, 1, rev. Elberf. Übers.)
Viele Bibelleser wissen um das gute Verhältnis, das Timotheus mit Paulus verband. Die Tatsache, dass der Apostel seinen Mitarbeiter in diesem Vers als “Sohn“ (griech. “τέκνον“ / “teknon“ = “Kind“) im Glauben bezeichnet, deutet darauf hin, dass er das Werkzeug war, durch das Timotheus zum Glauben an Jesus Christus kam. Wir gehen jedoch fehl, wenn wir die Worte in 2. Timotheus 2, 1 als liebevollen, väterlichen Rat auffassen. Nein, die Aufforderung “stark in der Gnade, die in Christus Jesus ist“ zu werden, war keine freundliche Ermutigung, keine Streicheleinheit für die Seele. Sie passt auch nicht in eine Zettelbox mit Verheißungen, aus der wir morgens ein Kärtchen ziehen, dessen Inhalt wir bis zur Mittagspause wieder vergessen haben. Diese Aufforderung ist ein “Survivalkit“, eine “Überlebensausrüstung“ für schwierigste Zeiten. Das wird deutlich, wenn wir die Umstände betrachten, in denen sich Paulus und Timotheus zur Zeit der Abfassung dieses Briefes befanden.
Im Zweifrontenkrieg
Rom. Wir schreiben das Jahr 67 n. Chr.: Der Apostel Paulus verfasst diesen Brief im Gefängnis. Er befindet sich (zum zweiten Mal) in Rom in Gefangenschaft. Seit drei Jahren ist die Metropole des römischen Imperiums für Christen nicht nur ein gefährliches, sondern ein lebensgefährliches Pflaster. Denn drei Jahre zuvor, vom 19. bis 26. Juli 64 n. Chr., hat ein von Kaiser Nero initiierter Großbrand die Stadt verwüstet. Um nicht selbst dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, lässt der Verrückte das Gerücht ausstreuen, die Christen, die Anhänger jener merkwürdigen neuen Religion, die sich so sehr von allen bisherigen unterscheidet, hätten den Brand gelegt. Christen werden gefangenen genommen und zum Tod verurteilt. Die Strafe wird auf verschiedene Weise vollstreckt: Lässt Nero die Christen anfänglich in die Felle von Tieren einnähen und dann Hunden oder anderen Raubtieren zum Fraß vorwerfen, so geht er nur etwas später dazu über, die Verurteilten mit Teer bestreichen, an Pfähle heften und so nachts als lebende Fackeln in seinen Gärten verbrennen zu lassen. Es ist diese Situation, in der Paulus seinen zweiten Brief an Timotheus schreibt. Ihm selbst ist klar, dass auch er nicht mehr lange zu leben hat (2. Timotheus 4, 6 – 8 ). Etliche Christen haben aufgrund der Verfolgung die Stadt bereits verlassen, einige, wie Demas, haben sich wieder der Welt zugewandt (2. Timotheus 4, 9 – 10). Auch während der ersten Gerichtsverhandlung gegen den Apostel, traute sich kein römischer Christ, zu seinen Gunsten als Zeuge aufzutreten (2. Timotheus 4, 16). Ganz offensichtlich waren sie abgetaucht, zu “U-Boot-Christen“ geworden.
Es wäre gut nachvollziehbar, wenn der Apostel in dieser Situation den Mut verloren, ja aufgegeben hätte. Doch das Gegenteil war der Fall. Er erlebte, wie Christus ihn stärkte und ihm vor Gericht die Kraft gab, sich nicht nur zu verteidigen, sondern auch das Evangelium zu verkündigen (2. Timotheus 4, 17). Diese “Stärke durch die Gnade, die in Christus Jesus ist“, wünschte er auch Timotheus. Denn er wusste, dass allein diese Stärke ein tragbares Fundament in allen Lebenslagen ist. Weltliche Herrscher mochten das geltende Recht nach Belieben brechen und ihn für “vogelfrei“ erklären, andere Christen mochten ihn aus Kleinmut und Zweifel allein lassen, Christus und Seine Gnade würden ihn auch dann noch durchtragen. Wenn alles wankt und sich verändert: Christus bleibt treu (1. Korinthern 1, 9) und Seine Gnade kennt keine Grenzen (1. Timotheus 1, 14; Johannes 1, 14 – 16). Diese beiden Tatsachen geben dem Gläubigen Stabilität.
Verfolgung, Folter und den sicheren Tod vor Augen: das ist keine Situation, in der man einem geliebten Bruder zwei, drei nette Tipps oder ein paar ermutigende Floskeln mit auf den Weg gibt. Das ist der Zeitpunkt, an dem der Apostel in seinem letzten Brief – quasi wie in einem geistlichen Testament – noch einmal die wichtigsten Anliegen zusammenfasst. Paulus weiß um die schwierige Situation, in der sich die Christen im römischen Reich befinden und ihm ist auch bewusst, das dies nicht die letzte Christenverfolgung sein wird (2. Timotheus 3, 12; 1. Thessalonicher 3, 3). Auch Timotheus wird diesen Schwierigkeiten ausgesetzt sein.
Ephesus. Doch Verfolgung und Bedrohung von Seiten der ungläubigen Welt ist nicht die einzige Front, an der Timotheus zu kämpfen hat und auch das ist dem Apostel Paulus bekannt: In Ephesus (2. Timotheus 1, 16 – 18, vgl. mit 2. Timotheus 4, 19) ist der Mitarbeiter mit Problemen konfrontiert, die mehr und mehr auch in anderen Versammlungen (= Gemeinden) auftreten werden und die der Herr Selbst in den Sendschreiben (Offenbarung 2 – 3) tadeln wird. Der geistliche Zustand der Gläubigen hatte sich verändert, aber leider nicht zum Guten. Sie hatten die erste Liebe zu ihrem Erlöser verlassen (vgl. Offenbarung 2, 4). Wie konnte dies geschehen? Unbewusst oder bewusst hatten sie zugelassen, dass sich andere Dinge in ihr Herz drängten und den Platz einnahmen, der nur Christus gebührte. Konnte der Apostel im 1. Timotheusbrief von der Versammlung (= Gemeinde) noch als dem “Haus Gottes“ sprechen (1. Timotheus 3, 15), so muss er sie unter der Leitung des Heiligen Geistes in diesem zweiten Brief als “das große Haus“ (2. Timotheus 2, 20 ff.) bezeichnen. Und in diesem “großen Haus“ waren nicht mehr nur “Gefäße zur Ehre“ Gottes zu finden, sondern auch “Gefäße, die dem Herrn Unehre“ bereiteten. Einige, die den Schein christlichen Glaubens gehabt hatte, entpuppten sich als Irrlehrer (2. Timotheus 2, 16 – 18 ). Andere offenbarten durch ihren unmoralischen Lebenswandel, dass sie nie wirklich Buße getan hatten und ihr Bekenntnis zu Christus nur ein Lippenbekenntnis war (2. Timotheus 3, 1 – 9). Etliche hatten sich falschen Lehrern zugewandt, die ihnen nur die Dinge verkündigten, die sie hören wollten (2. Timotheus 4, 2 – 4). In Ephesus offenbarte sich zu diesem Zeitpunkt bereits der Verfall der Versammlung (= Gemeinde) und ihre Vermischung mit der Welt, wie es der Herr Jesus in den prophetischen Gleichnissen im 13. Kapitel des Matthäusevangeliums angekündigt hatte.
Timotheus erlebte also eine doppelte Belastung: Von außen droht Gefahr durch die römische Staatsmacht. Verfolgung, vielleicht sogar Tod. Aber auch innerhalb der Versammlung (= Gemeinde) sind gefährliche Entwicklungen erkennbar. Unter dem Gewicht dieser doppelten Belastung hätte der junge Mitarbeiter leicht zusammenbrechen können. In dieser Situation fordert ihn Paulus auf:
“Du nun, mein Kind, sei stark (oder: erstarke) in der Gnade, die in Christus Jesus ist (…)“
(2. Timotheus 2, 1, rev. Elberf. Übers.)
Die praktische Anwendung der Gnade: Gnade nehmen
Wie kann Gnade einem Menschen in einer solchen Situation Stärke vermitteln? Wenn wir an das Wort “Gnade“ denken, dann denken wir oft auch gleich an das, was “Gnade“ nach unserem Verständnis bedeutet: unverdiente Güte, Gunst, Gnadenerweisung, Geschenk. Als Christen denken wir vielleicht auch an den Gegensatz von Gesetz und Gnade. Aber der biblische Begriff geht darüber hinaus. Gnade ist das “Mittel“, durch welches uns Gott alles zukommen lässt, was wir zum Leben benötigen. So schenkt Gott uns z.B. nicht nur Erkenntnis darüber, wie wir in einer speziellen Situation handeln sollen, sondern Er gibt auch die Kraft dazu, dass wir so handeln können.² In Johannes 1, 14 – 16 sagt der Apostel über die Gnade:
“Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes zeugt von ihm, ruft und spricht: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Moses gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden.“
In diesen Versen werden zwei Aussagen getroffen, die uns zeigen, wie wir die Gnade praktisch in unserem Alltag erleben können:
* “Gnade um Gnade“ – Viele Christen verbinden den Begriff “Gnade“ nur mit dem Beginn ihres Glaubenslebens: Wir wenden uns zu Gott mit unseren Sünden, ja unserem ganzen von Gott losgelösten Leben und empfangen – aus Seiner Gnade – Vergebung und Erlösung. Das stimmt. Aber auch danach ist Gottes Gnade an jedem Tag unseres Lebens wirksam. Eine Erweisung der göttlichen Gnade folgt der anderen. Das von Luther in Johannes 1, 16 mit „um“ übersetzte griechische Wort ist “ἀντὶ“ = “anti“, was hier nicht mit “gegen“, sondern mit “für“ (im Sinne von “an Stelle von“) übersetzt werden muss. Wir können also sagen, dass Gott immer neue Gnade anstelle vorausgegangener Gnade gibt. Darum gibt die neue Genfer Übersetzung diesen Vers auch so wieder:
“(…) aus der Fülle seines Reichtums Gnade und immer neu Gnade (…)“
* “genommen“: Immer wieder lässt Gott uns durch die Gnade das zuteil werden, was wir brauchen. Aber diese Gnade muss “genommen“ werden. Gott reicht uns Seine Gnade dar, aber wir müssen sie (aktiv!) nehmen. Wie dies geschehen kann, wird aus Hebräer 4, 16 deutlich:
“So lasset uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe!“
Zum Thron der Gnade hinzutreten, bedeutet, dass wir uns Gott im Gebet nahen und Ihm unsere Bitten und Anliegen mitteilen. Für uns als Erlöste ist der Thron Gottes kein Thron des Gerichts mehr, sondern ein Thron der Gnade. Darum können wir mit Freimütigkeit zu Gott kommen. Weder müssen wir befürchten, dass Gott uns von sich weist, noch dass Ihm unsere Anliegen lästig seien. Nein, Er fordert uns auf, alle unsere Anliegen vor Ihn zu bringen:
“Sorget um nichts; sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden.“
Aber wir bleiben nicht dabei stehen, Gott unsere Anliegen zu nennen, sondern wir glauben Ihm auch, dass Er uns in Seiner Weisheit genau das geben wird, was wir brauchen (Markus 11, 24). Dabei sollten wir bedenken, dass es beim Gebet nicht um unsere Wünsche geht. Vielleicht sind wir der Meinung, wir benötigten einen Mercedes, um täglich zur Arbeit zu fahren. Wir mögen dafür beten, ja sogar “glauben“, dass Gott uns dieses Gebet erhört. Was aber ist, wenn unser Geld dann doch “nur“ für einen Golf oder Fiat reicht? Hat Gott unser Gebet nicht erhört? Gott weiß, dass wir einen “fahrbaren Untersatz“ benötigen, aber Gott weiß auch, welches Fahrzeug uns zum Besten dient. Unser Gebet muss in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes sein (1. Johannes 5, 14), damit Gott es erhören kann. Den Willen Gottes erfahren wir aus Seinem Wort, der Heiligen Schrift. Wenn wir das Lesen und das Studium Seines Wortes vernachlässigen, können wir gar nicht wissen, was Sein Wille ist. Es sollte uns darum auch nicht wundern, wenn unsere Gebete nicht in dem Umfang erhört werden, wie wir es uns wünschen und wie Gott es uns zugesagt hat. Aber wenn sich unser Gebet aus dem Wort Gottes und nicht aus unseren Wünschen speist, dann werden wir immer öfter erleben, wie Gott uns erhört. Wir werden immer wieder „Gnade und neu Gnade“ aus der Fülle unseres Herrn Jesus Christus nehmen. Er ist die Quelle aller göttlichen Gnade. Indem wir das tun, erstarken wir. Wir werden stark, unser Glaubensleben wird stabil und tragfähig, auch für schwierige Zeiten und belastende Situationen.
Fußnoten:
¹= vgl. dazu: 1) Spiros Zodhiates, Th.D., in: The Hebrew-Greek Key Study-Bible, AMG Publishers, Chatanooga/USA, Anmerkung zu Johannes 1, 16; 2) Chr. Briem: „Das Neue Testament mit sprachlichen Erklärungen aus dem Grundtext“, Teil 1 – Die vier Evangelienb und die Apostelgeschichte, Hückeswagen 1995, Seite 516; 3) Entsprechende Übersetzung siehe auch z. B.: “The Holy Bible – Translated Literally From The Original Tongues“ by Julia E. Smith, American Publishing Company, 1876; sowie: Youngs Literal Translation, die bekannte King James Version 1611, The NET Bible, American Standart Bible; enstprechender Hinweis in der Revidierten Elberfelder Übersetzung;
²= vgl. Adam Clark: „Commentary and Critical notes on the Bible“, Thomas Nelson Inc., 1996, Anmerkung zu 1. Timotheus 2, 1