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Die Fundamente 4
Buch I, Kapitel II: “Die Gründe für die Menschwerdung Gottes“

Westminster Chapel/London * Foto: By Foreveryounger (London) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)%5D, via Wikimedia Commons
Autor dieses Kapitels ist Reverend G. Campbell Morgan, D. D., Pastor des Westminster Chapel, London/England. Sein umfassender Artikel enthält vier große Abschnitte, die in weitere, erklärende Unterabschnitte aufgeteilt wurden.
Im Vorwort des Artikels hält Campbell fest, dass seine Betrachtung begrenzt und deshalb auch auf das Thema ihres Titels fokussiert ist. Außerdem erklärt der Autor, dass sein Artikel weder die Aussage des Neuen Testaments, dass “das Wort Fleisch wurde“ verteidigen wird, denn die Tatsache dieser Aussage wird als wahr und erwiesen angenommen, noch wird der Autor in seiner Ausarbeitung den Versuch unternehmen, das Geschehen dieses heiligen Geheimnisses zu erklären. Denn nicht umsonst wird die Inkarnation Gottes von der Heiligen Schrift selbst als ein Geheimnis bezeichnet und stellt damit eine Tatsache dar, die gegenwärtig jenseits jeden menschlichen Verständnisses und jeder menschlichen Erklärungsmöglichkeit liegt. Es ist der Wunsch des Autors, dass seine Ausführungen – trotz ihrer Kürze – bei den Lesern ein tieferes Empfinden für das Wunder dieser zentralen Wahrheit des christlichen Glaubens erwecken und so auch dazu beitragen, dass die Leser selbst weiter darüber nachdenken.
Die Inkarnation, d.h. die Menschwerdung Gottes, steht im Zentrum der Lehre der Heiligen Schrift über die Art und Weise, wie Gott mit dem in Sünde gefallenen Menschengeschlecht handelt. Alles, was die Heilige Schrift uns von der Zeit vor der Inkarnation berichtet, bewegt sich auf dieses Ereignis zu und findet in ihm seine Erfüllung und Erklärung. Die Botschaften der Propheten und die Lieder der Psalmisten kündigten das Kommen Christi bereits an und wiesen immer stärker darauf hin. Alle uns berichteten Entwicklungen, die nach der Inkarnation eintraten, haben ihre Auswirkungen vertieft und bekräftigt. Die Evangelien befassen sich mit dem Kommen Christi, Seinem Dienst und Seiner Botschaft. Die Briefe des Neuen Testaments widmen sich alle der Inkarnation, den mit ihr verbundenen Lehren und der Bedeutung, die die Inkarnation für den Gläubigen hat. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung Jesu Christi, verkündet uns das letzte große Ziel der Inkarnation. Aber nicht nur die Botschaft dieser heiligen Bibliothek, so Campbell, sondern alles, was aus ihr resultiert, ist das Ergebnis der Inkarnation, des Kommens Christi in diese Welt. Es ist darum von großer Bedeutung, dass wir die Gründe kennen, die Gott zu diesem Wunder bewogen haben und dass wir uns ebenso mit den Absichten befassen, die Gott damit verfolgt. Das Neue Testament nennt uns vier Absichten Gottes im Zusammenhang mit Seiner Menschwerdung:
- um Gott, den Vater zu offenbaren (Johannes 14, 9),
- um die Sünde wegzunehmen (Hebräer 9, 26),
- um die Werke des Teufels zu zerstören (1. Johannes 3, 8) und
- um beim Seinem zweiten Kommen das Reich Gottes aufzurichten (Hebräer 9, 28; Daniel 2, 44)
Christus, so Campbell, stand im Konflikt mit allem, was diesen Absichten Gottes entgegenstand, egal ob es sich dabei um etwas im Leben des Einzelnen, im Gemeinwesen, im Leben der Nation oder der Menschen allgemein handelte. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Offenbarung Gottes, des Vaters, der Grund der Inkarnation war. Die Abschaffung der Sünde war ein Teil dieses Prozesses und wenn Christus wiederkommen und das Reich Gottes aufrichten wird, dann wird damit auch die vollkommene und endgültige Zerstörung der Werke des Teufels einhergehen.
I. Um Gott, den Vater, zu offenbaren
Als Einleitung dieses Abschnitts zitiert Campbell zwei Stellen aus dem Johannesevangelium:
“Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht.“
(Johannes 1, 18; ELBEDHÜ)
“Jesus spricht zu ihm: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen, [und] wie sagst du: Zeige uns den Vater?“
(Johannes 14, 9; ELBEDHÜ)
Bei dem zweiten Vers handelt es sich um eine persönliche Aussage Christi. In ihr wird die göttliche Wahrheit in Einfachheit und Erhabenheit dargelegt. Keine andere Aussage Jesu über seine Beziehung zu Gott, dem Vater, ist so umfassend, alles einschließend und vollständig wie diese. Die letzten Stunden, die der Herr Jesus Christus vor Seinem Tod mit Seinen Jüngern verbrachte, waren gerade dabei zu vergehen. Er sprach zu ihnen und viermal wurde Er dabei von ihnen unterbrochen. Philippus sagte. “Herr, zeige uns den Vater, und es ist genug für uns.“ Die Aussage, mit der Philippus den Herrn unterbrach, können wir gut nachvollziehen. Philippus und die anderen Jünger hatten nun schon fast drei Jahre in größter Nähe zu ihrem Meister gelebt und ihnen war auch klar, dass Er eine besondere Beziehung zu Gott hatte. Dennoch waren Philippus und die anderen Jünger immer noch in einem Denken verhaftet, dass von Erfahrungen bestimmt war und zwar von Erfahrungen anderer. Es waren Erfahrungen, die ihnen im Alten Testament überliefert worden waren. Und natürlich wurden sie auch von ihren eigenen Erfahrungen bestimmt. Aus dem Alten Testament wusste Philippus um die Gemeinschaft, die die Ältesten Israels auf dem Berg mit Gott gehabt hatten (vgl. 2. Mose 24, 9 – 11). Und sicherlich kannte er aus dem Buch des Propheten Hesekiel auch den Bericht darüber, wie er dieser die Herrlichkeit Gottes in Seinem Tempel gesehen hatte (vgl. Hesekiel 43, 4 – 5). Etwas Ähnliches erwartete Philippus nun auch als Antwort auf seine an den Herrn Jesus Christus gerichtete Frage. Was wir als Antwort auf diese Frage erleben, ist so beeindruckend, dass man es kaum in Worte fassen kann: Der Herr Jesus Christus wendet sich Philippus nicht mit einer großen belehrenden Geste, sondern wie ein liebevoller, aber auch trauriger Freund zu. In das Gesicht Seines Jüngers blickend, der gerade – ohne es vielleicht zu wissen – die große Sehnsucht des menschlichen Herzens ausgesprochen hatte -, sagte Er: “So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (…)“ Diese Aussage über sich selbst, hat der Erlöser durch die Jahrhunderte unter Beweis gestellt.
Zwei Dinge seien, so Campbell, deshalb nun zu betrachten: “Was bedeutet diese Offenbarung Gottes für die Menschheit?“ und “Was bedeutet sie für den einzelnen Menschen?“
Welche Vorstellung von Gott gab es in der Menschheit, bevor Christus kam? Wenn man das hebräische Denken über Gott betrachtet, so wird deutlich, dass es vor der Inkarnation ein ständig wachsendes intellektuelles Verständnis der Wahrheit über Gott gab. Gleichzeitig ist jedoch auch ein ständiges Abnehmen moralischer Werte erkennbar. Es ist nicht möglich, dass Alte Testament zu studieren, ohne gleichzeitig zu erkennen, dass die Erkenntnis Gottes zunahm: die Tatsache, dass Gott Einer ist, die Tatsache der Macht Gottes, die Tatsache der Heiligkeit Gottes, die Tatsache der Barmherzigkeit Gottes. Dies alles war den Menschen bekannt. Während das intellektuelle Verständnis von Gott immer mehr wuchs, kam es gleichzeitig zu einem beständigen Abnehmen der moralischen Werte. Auch das kann man nicht übersehen, wenn man das Alte Testament studiert. Das moralische Leben eines Abrahams war wesentlich reiner, als das Leben der Israeliten zur Zeit der Könige. Doch selbst das Leben zu frühen Zeit der Könige war noch reiner, als das Leben in jenen Tagen, die die alttestamentarischen Propheten beschreiben und anklagen. Je mehr das intellektuelle Wissen des Menschen über Gott wuchs, desto mehr schien gleichzeitig der Gedanke, dass Gott am Alltagsleben des Menschen Interesse haben könnte, undenkbar. Moral und Ethik waren nicht mehr an die enge Lebensbeziehung zu Gott gebunden und wurden damit auch immer unwichtiger.
Ähnliche Entwicklungen können wir auch in den anderen Nationen zu dieser Zeit erkennen. Obwohl es auch dort viele Anstrengungen gab, Gott durch den Intellekt zu verstehen und das Leben der Menschen durch hohe ethische Gebote zu regeln, war doch ein universaler moralischer Verfall zu erkennen. In beiden Fällen rührte dieser moralische Verfall daher, dass es der Menschheit an der vollkommenen Erkenntnis Gottes mangelte. Erst nachdem die Engel auf den Feldern Bethlehems sangen und der Sohn Gottes geboren worden war, konnte die Menschheit durch Seine Inkarnation und durch Seinen Dienst die vollkommene Erkenntnis Gottes erlangen. Er vereinigte in Seinem Kommen und in Seiner Lehre all‘ die grundlegenden Wahrheiten, die von Gott bereits zuvor erkennbar waren. Er verneinte die Wahrheit der Einheit Gottes nicht, Er bestätigte sie. Er verneinte die Wahrheit der Macht Gottes nicht, Er manifestierte sie in Seinem Dienst und zwar sowohl in der liebevollen, heilenden Berührung des Einzelnen als auch in der Demonstration dieser Macht in der Stillung des Sturms, der Speisung der 5.000 oder der Auferweckung des Lazarus. Er verneinte die Heiligkeit Gottes nicht, Er bestand darauf in Seiner Lehre und in Seinem Leben bis zu Seinem Tod. Er verneinte die Barmherzigkeit Gottes nicht, Er gab ihr einen neuen Namen: Liebe. Und Er tat noch mehr: Alles, was Menschen bisher über Gott in Psalmen und Prophetien geäußert hatten, das erfüllte Er! “Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen!“ – nicht Elohim, nicht Jahwe, nicht den HErrn. Obwohl all‘ diese Namen Gottes richtig waren und Aussagen, die mit ihnen verbunden sind, der Wahrheit entsprachen, kam erst durch Jesus Christus die vollkommene Offenbarung Gottes als Gott, dem Vater.
Vaterschaft, so Campbell, bedeutet viel mehr als wir oft denken. Sie ist nicht nur ein “terminus technicus“, wenn es darum geht, Zärtlichkeit zu beschreiben. Vaterschaft steht zwar auch für Zucht und Disziplin. Aber vor allem bedeutet Vaterschaft, dass der Vater alles tun und aufgeben wird, um ein Kind, das verloren gegangen ist, zu erretten und wieder zu sich zurück zubringen. Es ist die Liebe des Vaters, die den Menschen mit unendlicher Liebe umgibt, ihn nie verwirft oder verlässt. Das ist die Wahrheit, die durch die Inkarnation geoffenbart wurde und die den Glauben, der aus einem rein verstandesmäßigen Anerkennen der göttlichen Wahrheit besteht, in eine persönliche Lebensbeziehung zu Gott überführt.
Wo immer Menschen, die niemals eine persönliche Offenbarung Gottes erlebten, Jesus Christus begegnen, da erkennen sie Ihn in der Regel zuerst als Erfüllung all‘ dessen, was sie über die göttliche Wahrheit wussten bzw. erkannt hatten. Dann aber wird Jesus Christus auch alles korrigieren, was im Denken eines solchen Menschen über Gott nicht der Wahrheit entspricht. Und schließlich wird sich Gott diesem Menschen durch Christus vollkommen offenbaren.
Welchen Einfluss hat nun die Menschwerdung Gottes auf den einzelnen Gläubigen? Auch darauf kann uns das Gespräch zwischen Philippus und dem Herrn Jesus Christus die Antwort geben. Auf die Bitte des Philippus: “Zeige uns den Vater, und es ist genug!“, sagte der Herr: “So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?“ Was diese Frage des Herrn zum Ausdruck bringt ist doch: Philippus, du hast genug von mir gesehen und wenn du mich wirklich gesehen hast, dann hast du auch das gefunden, worum du bittest – eine Vision Gottes.
Was hatte Philippus denn gesehen? Was sollte er gesehen haben? Welche Offenbarung Gottes hätte er schon längst durch diese Person empfangen sollen, die er gesehen und noch nicht verstanden hatte? Die Heilige Schrift gibt uns auf diese Frage Antworten und zwar im Johannesevangelium. Im Matthäus-, im Markus- und im Lukasevangelium wird Philippus als Jünger erwähnt, doch darüber hinaus erfahren wir in den synoptischen Evangelien nichts weiter von ihm. Johannes hingegen berichtet in seinem Evangelium von vier Ereignissen, bei denen Philippus zusammen mit dem Herrn Jesus Christus gesehen wird:
Philippus war der erste Jünger, den der Herr berief, Ihm zu folgen (vgl. Johannes 1, 43 – 44). Zwei andere Jünger folgten dem Herrn bereits davor, doch diese hatte der Herr nicht berufen, sie waren Ihm gefolgt, weil sie sich dazu durch die Lehre Johannes des Täufers veranlasst sahen (vgl. Johannes 1, 35 – 37). Doch Philippus war der erste Mensch, den Jesus Christus mit den bekannten Worten “Folge mir nach!“ berief (vgl. Johannes 1, 43) Johannes berichtet weiter: “Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben hat und die Propheten, Jesus, den Sohn des Joseph, den von Nazareth.“ (Johannes 1, 45) Hier wird uns die erste Erkenntnis des Philippus geschildert. Das war das Erste, was Philippus gemäß seinem eigenen Bekenntnis in Jesus Christus gesehen hat: den Einen, der all‘ das in sich vereinte, was Mose und die Propheten verkörperten. Wir lesen dann wieder im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums von Philippus und zwar im Zusammenhang mit der großen Menschenmenge, die der Herr Jesus Christus speiste. Dort sieht Philippus, der es für unmöglich hielt, diese große Menge von Menschen zu versorgen (Johannes 6, 5 – 7), jemanden, der auf wunderbare Weise über genügend Mittel verfügte, um den Hunger dieser Menschen zu stillen. Und dann hörte Philippus, wie der Herr Jesus Christus in einer unvergleichlichen Predigt die Gedanken seiner Zuhörer vom körperlichen Hunger zu den geistlichen Bedürfnissen des Menschen lenkte und von sich sagte: “Ich bin das Brot des Lebens.“ (Johannes 6, 48). Das war also die zweite Sicht, der zweite Blick, den Philippus von dem Herrn Jesus Christus hatte. Er sah jemanden, der alle Mittel besaß, der fähig und willens war, sowohl den materiellen als auch den geistlichen Hunger des Menschen zu stillen.
Dann begegnen wir Philippus im zwölften Kapitel des Johannesevangeliums: “Es waren aber einige Griechen unter denen, die hinaufgingen, um auf dem Fest anzubeten. Diese nun kamen zu Philippus, dem von Bethsaida in Galiläa, und baten ihn und sagten: Herr, wir möchten Jesus sehen.“ (Johannes 12, 20 – 21) Gemeinsam mit Andreas brachte er diese Menschen anschließend zu Jesus. Dann konnte er die enge Beziehung seines Meisters zu Gott, dem Vater, beobachten, die von vollkommener Harmonie geprägt war und in der es keinerlei Streit oder Zwietracht gab. Im Gegenteil. Philippus konnte mit anhören, wie sein Meister aufgrund dieser engen Beziehung zu Gott, dem Vater, nachdem Er von Seinem Leiden gesprochen hatte, auch Seinen Sieg ausrief: “Jetzt ist das Gericht dieser Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ (Johannes 12, 31 – 32) Das war die dritte Sicht, der dritte Blick, den Philippus von dem Herrn Jesus bekam. Er sah den Einen, der in vollkommener Übereinstimmung mit Gott, dem Vater, handelte, den Einen, der nicht vor dem Leiden davon lief, das dieser Dienst der Erlösung der Menschheit Seiner Seele auferlegte.
Wenden wir uns nun dem letzten Ereignis zu, das Johannes uns im Zusammenhang mit Philippus und dem Herrn Jesus Christus berichtet. Es ist jene Szene in Johannes 14, 8 – 9, in der Philippus den Herrn anspricht: “Philippus spricht zu ihm: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns.“ (Johannes 14, 8) Jesus Christus schaute in das Angesicht Seines Jüngers und antwortete: “So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen, [und] wie sagst du: Zeige uns den Vater?“ (Johannes 14, 9) Ja, Philippus hatte alle diese Dinge gesehen und dennoch hatte er sie nicht wirklich gesehen. Er hatte sie nicht wirklich wahrgenommen. Doch nachdem Christus Sein Werk vollendet hatte und der Tag der Pfingsten gekommen war, da erkannte er das alles. Er sah die wahre Bedeutung der Ereignisse, die er zuvor beobachtet hatte, deren Sinn er jedoch bisher nie wirklich verstanden hatte.
Da erkannte er, dass er Gott, den Vater sah, wenn er den Herrn Jesus Christus sah. Wenn er den Einen sah, der das Gesetz und die Gerechtigkeit in sich vereinte, den Einen, der allein den Hunger der Menschheit stillen konnte, den Einen, der in vollkommener Gemeinschaft mit Gott die Leiden der Menschheit teilte, um sie so zu retten, dann sah er Gott. Es ist diese Manifestation Gottes, die das Denken überzeugt, die die Liebe des Herzens gewinnt und die den Willen in Übereinstimmung mit Gott bringt. So offenbart die Inkarnation Gott, den Vater. Auf diese Weise erlaubt uns Gott einen Blick in Sein Angesicht, so dass wir sagen können: “Mein Herr und mein Gott“! und “Abba, lieber Vater!“ Auf diese Weise sollen unsere Seelen Ruhe finden und unser Herzen völlige Befriedigung. Auf diese Weise wird es uns genügen, den Vater zu sehen.
II. Um die Sünde abzuschaffen
Campbell leitet diesen Abschnitt seines Artikels mit einem Zitat aus dem 1. Johannesbrief ein:
“Und ihr wisst, dass er offenbart worden ist, damit er unsere Sünden wegnehme; und Sünde ist nicht in ihm.“
(1. Johannes 3, 5; ELBEDHÜ)
Dieser Text gibt uns ein noch größeres Verständnis über den Grund der Inkarnation und wie sie den Nöten der Menschheit begegnet. Zum einen sagt uns dieser Vers, dass das große, alles umfassende Ziel der Inkarnation darin bestand, die Sünde wegzunehmen und dass der Prozess, durch den dies möglich wurde, die Inkarnation selbst war. Was ist mit dem Wort “Sünde“ gemeint? Mit dem Begriff “Sünde“ sind alle Handlungen gemeint, die gegen das Gesetz Gottes verstoßen. Ob diese Handlungen unserer bewussten Überlegung entspringen oder das Ergebnis von Unterlassungen sind, ist dabei nicht von Bedeutung. Das Wort schließt nach Campbell alle Gedanken, Worte und Taten ein, die am Ziel und Wunsch Gottes vorbei gehen. Es sind die Dinge, die zwischen dem Menschen und Gott stehen, so dass der Mensch Angst vor Gott bekommt. Es sind die Dinge, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, so dass Menschen Angst vor einander bekommen, weil sie wissen, dass sie einander verletzt oder geschadet haben. Es sind die Dinge, die zwischen dem Menschen und dem wirklichen Gelingen seines Lebens stehen.
Die Worte “um wegzunehmen“ bezeichnen ein Ergebnis. Im Hebräischen finden wir die Entsprechung dieses Wortes in dem Gesetz über den Sündenbock. Dieser sollte in die Wüste hinausgetrieben werden, nachdem der Hohepriester am Versöhnungstag alle Sünden des Volkes auf seinen Kopf bekannt, d.h. den Bock mit den Sünden des Volkes symbolisch belegt, hatte. Indem der Bock anschließend in die Wüste hinausgetrieben wurde, wurde die Sünde – bildlich gesprochen – von einem Ort an einen anderen gebracht. Sie wurde “weggenommen“. Das ist die einfache Bedeutung der Aussage: “(…) er (ist) offenbart (ge)worden (…), damit er unsere Sünden wegnehme“. Er wurde offenbart, um mit der Menschheit in Beziehung zu treten, die Bürde der menschlichen Sünde auf sich zu nehmen und sie hinweg zu nehmen bzw. hinweg zu tragen. Im Herzen eines jeden Mannes und einer jeden Frau ist ein Bewusstsein der Sünde. Wir mögen die Sünde entschuldigen, wir mögen Argumente vorbringen, mit denen wir uns meinen entschuldigen zu können, wir mögen vielleicht sogar den Wunsch haben, die Dinge ungeschehen zu machen. Wir mögen den Wahrheiten des Evangeliums den Rücken zugewandt haben, und dennoch wissen wir um unsere Sünde und viele wünschen, dass sie sie ungeschehen machen könnten. Doch allen, die sich danach sehnen, dass ihre Sünde hinweggetan wird, gilt die Einladung des Evangeliums Jesu Christi, durch die uns genau das angeboten wird: Das Hinwegtun unserer Sünde durch den Erlöser Jesus Christus. Was könnte für den Menschen, der sich seiner Sünde bewusst und ihrer überdrüssig ist, wertvoller sein?
“Und ihr wisst, dass er offenbart worden ist, damit er unsere Sünden wegnehme (…)“ – Wer ist diese Person? Aus dem Zusammenhang des Textes wird klar, dass es sich bei dieser Person um Jesus Christus handelt. Doch Johannes schaut noch weiter. Er erblickt in dem Kommen Christi zum Hinwegnehmen der Sünde das Handeln Gottes. Das wird durch den Hinweis deutlich, dass Er “offenbart worden ist“. Er, Jesus Christus, ist das Wort, das Fleisch, d.h. Mensch, wurde. Er, das Wort wurde Mensch, doch Er blieb gleichzeitig ganz das Wort, d.h. Gott. Er ist der Eine, den Johannes persönlich kennengelernt hatte (1. Johannes 1, 1 – 3), den der Apostel durch die Inspiration des Heiligen Geistes als den ewigen Gott erkannte (Johannes 1, 1 ff.)
Es ist bemerkenswert, dass Johannes, nachdem er schreibt, dass Er “geoffenbart wurde, um die Sünde hinwegzunehmen“, folgenden Hinweis anfügt: “(…) und Sünde ist nicht in ihm.“ Jesus Christus verfehlte niemals das Ziel bzw. den Willen Gottes. Der Eine, in dem keine Sünde war, der nie das Ziel oder den Willen Gottes verfehlte, kam in diese Welt, wurde offenbar, aus einem einzigen Grund: Er nahm die Sünde/die Zielverfehlung der gesamten Menschheit auf sich und nahm sie auf diese Weise hinweg.
“Er wurde offenbart, um die Sünde hinwegzunehmen (…)“ – und, so Campbell, niemals sollten wir klein oder niedrig von Ihm denken. Denn wenn wir das tun, wie könnten wir glauben, dass Er die Sünde der Menschheit hinwegtun konnte? Wenn der Herr Jesus Christus nur ein ganz normaler Mensch, ein weiser Lehrer oder ein sozialer Revolutionär gewesen wäre, dann hätte Er nie die Sünde hinwegnehmen können (vgl. Psalm 49, 8 – 9). Nur wenn wir Ihn als den verstehen und anerkennen, der Er – von Johannes bezeugt – ist, nur dann werden wir den Sinn der Aussage, dass Er “offenbart wurde, um die Sünde hinwegzunehmen“ wirklich verstehen.
Die Aussage, dass Er offenbart wurde, um die Sünde hinwegzunehmen, steht in völliger Übereinstimmung mit der Verheißung, die Maria empfing: “Sie wird aber einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden.“ (Matthäus 1, 21) Während Seines irdischen Dienstes sprach der Herr über die Sünde und offenbarte ihre Bedeutung. In den Zeichen und Wundern, die der Herr vollbrachte, zeigte sich u.a. auch Seine Macht über die Sünde und ihre Auswirkungen. Aus der Sicht Gottes waren diese Zeichen und Wunder nichts Übernatürliches, sondern ganz einfach eine Wiederherstellung dessen, was Gott als natürlich erachtet. Wenn Er Menschen heilte, dann war das die Wiederherstellung ihrer normalen körperlichen Verfassung.
Der Höhepunkt dieses Prozesses fand am Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi statt. Am Kreuz von Golgatha erfüllten sich die Worte Johannes des Täufers, der, auf Jesus Christus weisend, gesagt hatte: “Am folgenden Tag sieht er Jesus zu sich kommen und spricht: Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“ (Johannes 1, 29) Der Ausdruck “das Lamm Gottes“ konnte nur eine einzige Bedeutung für die Menschen haben, die diese Worte hörten. Es war die Stimme eines jüdischen Propheten, der zu Juden sprach und wenn er von dem Lamm sprach, das die Sünden der Welt wegnehmen sollte, dann gab es keine andere Möglichkeit, als an die Jahrtausende lange Abfolge von Opfern zu denken, die alle nur eine Vorschattung für das eine große Opfer darstellten, durch das die Sünde endgültig hinweggenommen werden sollte. In der Stunde des Todes Jesu bewahrheitete sich dieses Wort vollkommen und endgültig. Das Hinwegnehmen der Sünde war der tiefste Grund Seiner Menschwerdung.
Der Eine, der offenbart wurde, um die Sünde hinwegzunehmen, der war (und ist!) Gott. Wenn diese Tatsache eines Tages – bei Seinem zweiten Kommen – von der ganze Welt gesehen wird, dann wird kein Mensch jemals mehr in Seiner Geburt, Seinem Leben, Seinem Sterben am Kreuz und Seiner Auferstehung etwas anderes sehen als das: die Inkarnation Gottes, die das Ziel hatte, die Sünde der Welt wegzunehmen. Am Kreuz von Golgatha wurde der Plan der Erlösung, den Gott von Ewigkeit her hatte, offenbar: “Und alle, die auf der Erde wohnen, werden es anbeten, jeder, dessen Name nicht geschrieben ist in dem Buch des Lebens des geschlachteten Lammes von Grundlegung der Welt an.“ (Offenbarung 13, 8). An diesem Kreuz von Golgatha wurde das Herz Gottes geoffenbart.
Gemäß Campbell sind Sünde und Leiden untrennbar miteinander verbunden. Wo Sünde ist, da ist auch Leiden. Doch dieses Leiden betrifft nicht nur den Menschen, der sündigt. Auch Gott ist von diesem Leiden betroffen: “Und der HERR sah, dass die Bosheit des Menschen groß war auf der Erde, und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag. Und es reute den HERRN, dass er den Menschen gemacht hatte auf der Erde, und es schmerzte ihn in sein Herz hinein.“ (1. Mose 6, 5 – 6) Von dem Moment an, an dem der Mensch in Sünde fiel und zu leiden begann, ab diesem Moment wurde sein Leiden auch im Himmel gefühlt. Aus diesem Grund spricht die Heilige Schrift auch davon, dass dieses Lamm Gottes “von Grundlegung der Welt an geschlachtet ist“ (vgl. Offenbarung 13, 8).
Jeder Mensch, der sich seiner Sünde bewusst ist, sollte über den Einen betend nachdenken, der offenbart wurde, um die Sünde hinwegzunehmen. Er ist, wie es in einem alten Lied heißt, der
Fels des Heils, geöffnet mir,
birg mich, ew’ger Hort, in Dir!
Laß das Wasser und das Blut,
Deiner Seite heil’ge Flut,
mir das Heil sein, das frei macht
von der Sünde Schuld und Macht!
Dem, was Dein Gesetze spricht,
kann mein Werk genügen nicht.
Mag ich ringen, wie ich will,
fließen auch der Tränen viel,
tilgt das doch nicht meine Schuld,
Herr, mir hilft nur Deine Huld!
Da ich denn nichts bringen kann,
schmieg‘ ich an Dein Kreuz mich an;
nackt und bloß, o kleid mich doch!
Hilflos, ach erbarm Dich noch!