Unterscheidung: Die vier Evangelien und ihre Zielgruppen

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Sehr häufig wird die Frage gestellt, warum es vier Evangelien (je eines von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) gibt. Warum hat Gott uns nicht einfach ein einziges Evangelienbuch gegeben? Vier Evangelien, die zudem einige Ereignisse auch noch auf verschiedene Weise berichten, das verwirrt doch nur, oder? Nun, der Gott, von dem uns die Bibel berichtet, ist ein genialer Kommunikator und es war Sein Wunsch, dass Seine froh machende und befreiende Botschaft alle Menschen erreicht. Mit den vier Evangelien werden die drei Gruppen von Menschen angesprochen, in die die Heilige Schrift die gesamte Menschheit einteilt: die Juden, die (anderen) Nationen und die Versammlung (= Gemeinde/Kirche) Gottes. Wir finden diese Einteilung an verschiedenen Stellen in der Heiligen Schrift:

„Seid unanstößig den [1.] Juden und [2.] Griechen [= andere Nationen, JNj.] und [3.] der Gemeinde Gottes.“¹

(1. Korinther 10, 32)


„Simon hat erzählt, wie Gott zum erstenmal sein Augenmerk darauf richtete, aus den Heiden  [1.] ein Volk für seinen Namen [d.h., die Gemeinde, vgl. Titus 2, 14, JNj.] anzunehmen.  Und damit stimmen die Worte der Propheten überein, wie geschrieben steht: «Darnach will ich umkehren und  [2.] die zerfallene Hütte Davids [d.i. Israel, JNj.] wieder aufbauen, und ihre Trümmer will ich wieder bauen und sie wieder aufrichten, auf daß  [3.] die Übriggebliebenen der Menschen den Herrn suchen, und [3.] alle Völker [d.i. die anderen Nationen außerhalb Israels, JNj.], über welche mein Name angerufen worden ist, spricht der Herr, der solche Dinge tut»“²

(Apostelgeschichte 15, 14 – 17)

Jede dieser Gruppen wird mit einem der Evangelien ihren ganz besonderen Bedürfnissen entsprechend angesprochen:

1) Matthäus – das Evangelium für die Juden

Matthäus schrieb sein Evangelium unter der Inspiration des Heiligen Geistes für eine ganz bestimmte Zielgruppe, nämlich für jüdische Leser. Dies wird an vielen Stellen des Matthäusevangeliums deutlich:

Schon die Verse mit denen Matthäus sein Evangelium einleitet: „Buch des Geschlechts Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Matthäus 1, 1), mussten den jüdischen Leser an die ihm bekannten Aufzählungen der Stammbäume aus dem 1. Buch Mose erinnern. Dort finden sich in 1. Mose 2, 4; 5, 1 und 1. Mose 6, 9 ähnliche Aufzählungen, die mit den Worten: „Dies ist die Geschichte (eig. sind die Geschlechter o. Erzeugungen) … Dies ist das Buch von Adams Geschlechtern … Dies ist die Geschichte (eig. sind die Geschlechter o. Erzeugungen) Noahs ….“ beginnen. Weder diese sprachliche Ähnlichkeit, noch die explizite Erwähnung der Abstammung des Messias von David und Abraham wären für Römer oder Griechen von Bedeutung gewesen, für Juden hingegen waren dies wichtige und bedeutsame Hinweise.

Hinzu kommt, dass Matthäus wie kein anderer Evangelist immer wieder die Erfüllung alttestamentarischer Prophezeiungen im Leben, Wirken und Sterben Jesu Christi verdeutlicht:

  • Matthäus 1, 22: „Das ist aber geschehen, auf dass erfüllt wurde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht ….“,
  • Matthäus 2, 17: „Da ist erfüllt, was gesagt ist von dem Propheten Jeremia, der da spricht: …“,
  • Matthäus 8, 17: „… auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesajas, der da spricht: ‚Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen und unsere Krankheiten hat er getragen'“,
  • Matthäus 13, 14: „Und über ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt: ‚Mit den Ohren werdet ihr hören, und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen, und werdet es nicht verstehen.“
  • Matthäus 21, 4: „Das geschah aber alles, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: ….“ und
  • Matthäus 27, 9: „Da ist erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, da er spricht: ‚Sie haben genommen dreißig Silberlinge , damit bezahlt war der Verkaufte, welchen sie kauften von den Kindern Israel …“


Jeder jüdische Leser des Matthäusevangeliums war mit den Schriften der alttestamentarischen Propheten von früher Kindheit- und Jugend an vertraut. Bei römischen oder griechischen Lesern konnte dieses Wissen hingegen nicht vorausgesetzt werden. Mit dem Verweis auf die Erfüllung messianischer Prophetien durch Jesus Christus verdeutlichte Matthäus dem jüdischen Leser zudem, dass der „Sohn des Zimmermanns“ nicht nur ein charismatischer Prediger war, der die Massen anzog, sondern der von den Propheten angekündigte und von Israel über die Jahrhunderte ersehnte Messias, der verheißene König der Juden (vgl. Matthäus 21, 4 – 7; 21, 42; 25, 31 [vgl. Sacharja 14, 5; Daniel 7, 13]; 27, 38 [Jesaja 53, 12]).


2) Markus – das Evangelium für die Römer (Nationen im römischen Kulturbereich)

Die Zielgruppe des Markusevangeliums waren römische Leser. Dies wird u.a. daran deutlich, dass Markus die jüdischen Sitten, die er erwähnt, auch erklärt (vgl.  Markus 7, 3 – 4; 14, 12; 15, 42). Außerdem übersetzte der Evangelist die aramäischen Begriffe des Judentums für seine  Leser (vgl. Markus 3, 17; 5, 41; 7, 11; 7, 34; 10, 46; 14, 36; 15, 22; 15, 34) und benutzt an anderen Stellen lateinische Worte (so z.B. „modius“ für „Scheffel“ [Markus 4, 21], „census“ für „Steuer“ [Markus 12, 14], „speculator“ für „Henker“ [Markus 6, 27], „centurio“ für „Hauptmann“ [Markus 15, 39; 15, 44 – 45] und andere. Für die meisten dieser Begriffe gab es griechische Entsprechungen/Übersetzungen. Doch scheint Markus die lateinische Form zu benutzen, weil sie seinen Lesern gebräuchlicher bzw. vertrauter war. Für eine römische Leserschaft spricht auch, dass der Evangelist die römische Zeiteinteilung (vgl. Markus 6, 48 und Markus 13, 35) benutzt. Im Gegensatz zu den Griechen befassten sich die Römer weniger mit Philosophie, sie waren auch nicht an Theologie interessiert, wie die Juden, sondern mehr an Fakten. Diesem Interesse kam Markus mit seinem Evangelium entgegen. Es ist das kürzeste bzw. komprimierteste Evangelium und lässt alle Dinge, die für einen römischen Leser uninteressant sein könnten aus.

3) Lukas – das Evangelium für die Griechen (Nationen im griechischen Kulturbereich)

Das Lukasevangelium richtet sich, das wird schon aus der Einleitung (Lukas 1, 1 – 4) deutlich, an griechische Leser als Zielgruppe, ja es ist explizit für einen Griechen namens Theophilus geschrieben worden, wobei es sich bei dem Namen „Theophilus“ (griech. „von Gott geliebt“) um den Taufnamen dieses Gläubigen handeln kann. Auch die Sprache, die wir im Lukasevangelium wie in der Apostelgeschichte (der Fortsetzung  des Lukasevangeliums) finden, zeigt eine eindeutig griechische Geisteshaltung. Mit seinem Bericht verfolgte der Evangelist die Absicht,  der ganzen griechisch sprechenden Welt das Evangelium Jesu Christi nahe zu bringen. Im Gegensatz zu Matthäus führt Lukas die Abstammung Jesu nicht auf Abraham und David  (Matthäus 1, 1- 17) zurück, sondern geht im Stammbaum des Erlösers bis Adam zurück (Lukas 3, 23 – 38) und macht so deutlich, dass der Sohn Gottes nicht nur der  Befreier des jüdischen Volkes, sondern der Erlöser  der gesamten Menschheit ist. Die universelle Bedeutung der Evangeliumsbotschaft durchzieht das Buch vom Lobpreis des Simeon, der Jesus  als das „Licht der Nationen“ preist (Lukas 2, 32) bis zum Missionsauftrag, den der Auferstandene seinen Jüngern gibt und in dem er sie auffordert, dass Evangelium „allen Nationen“ zu predigen (Lukas 24, 47). Aus diesem Grund finden sich auch viele explizit mit dem Judentum zusammenhängende Geschehnisse nicht im Lukasevangelium (z.B. Matthäus 23; Matthäus 10, 5; Matthäus 15, 1 – 20; Matthäus 7, 1 – 23).  Andererseits berichtet Lukas viele  Geschehnisse, die den universalen Charakter des Kommens Jesu verdeutlichen (seine Geburt in einem römischen Kontext [Lukas 2, 1 – 2; 3, 1]). Kernaussage seines Evangeliums ist Lukas 19, 10: „… denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“  und dementsprechend präsentiert Lukas Jesus Christus als den Erlöser aller Menschen (der in Sünde gefallenen Frau [Lukas 7, 36 – 50], des Pharisäers und des Zöllners [Lukas 18, 9 – 14],  des Zachäus [Lukas 19, 1 – 10] und des Diebes am Kreuz [Lukas 23, 39 – 43]). Lukas beschreibt den Herrn Jesus als den vollkommenen Menschen, den vollkommenen Erlöser einer unvollkommenen, erlösungsbedürftigen Menschheit. Der Titel „des Menschen Sohn“, der die vollkommene Menschheit des Gottessohnes hervorhebt, wird im Lukasevangelium an 26 Stellen gebraucht wird, offenbart ihn dabei als den vollkommenen, wahren Repräsentanten der gesamten Menschheit. Indem Lukas an vielen Stellen den Umgang Jesu mit  Kindern, Alten, Ausgestoßenen, Samaritern, Römern, Zöllnern und Sündern, Pharisäern, Armen, Reichen, Prostituierten, angesehenen Männern und Frauen, beschreibt, macht er deutlich, dass das Evangelium keinen Menschen ausschließt.

4) Johannes – Das Evangelium für die Versammlung (= Kirche/Gemeinde)

Der Apostel Johannes wiederum richtet sich mit seinem Evangelium an eine vierte Zielgruppe: die Gemeinde der Gläubigen. Dafür sprechen verschiedene Gründe: Zum einen werden in diesem Evangelium Personen erwähnt, die nicht weiter vorgestellt werden (Maria, Martha und Lazarus).  Den Gläubigen der Gemeinde (= Versammlung/Kirche) sind diese Personen sicher aus Predigten und/oder persönlichen Berichten bekannt gewesen.  Daher war es unnötig, auf diese Personen und ihre Beziehung, die sie zum Herrn Jesus oder zum Kreis der Jünger hatten, näher einzugehen. Ein weitere Punkt ist, dass Johannes in großem Maße Reden und  Belehrungen des Herrn Jesus zu verschiedenen Themen wiedergibt, mit denen Menschen, die nicht gläubig waren, gar nichts hätten anfangen können, z.B. die ausführliche Belehrung zu Kommen des Heiligen Geistes, Seinem Wesen und Wirken in Johannes 14 – 16. Weiter fällt auf, dass Johannes ausführlich persönliche Gespräche des Herrn mit seelsorgerischem Charakter mitteilt (das Gespräch mit dem Pharisäer Nikodemus, das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen, das Gespräch mit dem bußfertigen Petrus nach der Verleugnung). Die Widergabe dieser persönlichen Gespräche ist nicht nur eine gute Belehrung für die Gemeinde (= Versammlung/Kirche), wie sie mit seelsorgerischen Problemen umgehen kann, sondern auch ein Hinweis darauf, dass Johannes Augen- und Ohrenzeuge dieser Gespräche war. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass dieses Evangelium in ganz besonderer Weise die Gottessohnschaft Christi  betont und lehrmäßig untermauert. Damit begegnete das Evangelium genau den lehrmäßigen Auseinandersetzungen mit dem Gnostizismus, die in den letzten Jahrzehnten des ersten christlichen Jahrhunderts in der noch jungen christlichen Gemeinde (= Versammlung/Kirche)  um sich griff und eine Gefahr für die Evangeliumsverkündigung darstellte.

¹= Einfügungen von mir, JNj

²= Einfügungen von mir, JNj.

Literaturangaben:

1. Merill C. Tenney: „New Testament Survey“, W. B. Eerdmans Publishing Co., Grand Rapids, Michigan, Revised Edition, 14th Printing, 1976.

2. William MacDonald: „Der Unterschied – die Bibel recht verstehen“, Hänssler Neuhausen/Stuttgart 1985.

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